Die schwarze Madonna

Kennen Sie das Kloster Jasna Góra? Nein? Ich kannte es bis vor ein paar Jahren auch nicht. Es befindet sich in Polen, genauer gesagt in Schlesien, etwa auf halbem Weg zwischen Kraków und Wrocław. Vielleicht haben Sie den Namen der Stadt, in der dieses Kloster steht, schon einmal gehört: Częstochowa.

Weil diese Städtenamen für unsere Zungen gar so schwierig auszusprechen sind, bleibe ich doch lieber bei den deutschen Bezeichnungen: Krakau, Breslau und Tschenstochau. Für besonders Ehrgeizige, die die polnischen Namen originalgetreu aussprechen wollen, ist hier die korrekte Aussprache: ˈkrakuf, ˈvrÉ”tswaf und tʃɛ̃stɔˈxÉ”va. Ich warne aber davor, das Ganze ohne ärztliche Begleitung auszuprobieren und übernehme keinerlei Haftung für verdrehte Zungen, abhanden gekommene künstliche Gebisse oder sonstige Spätfolgen! Wenn Sie es aber schaffen, damit in Polen verstanden zu werden, haben Sie meinen höchsten Respekt!
Aber das wollte ich Ihnen nicht erzählen, sondern: Im eingangs genannten Kloster Jasna Góra befindet sich seit sechshundert Jahren ein Gnadenbild der Jungfrau Maria. Das ist insofern interessant, weil es sich bei ihm um eine orthodoxe Ikone byzantinischen Ursprungs handelt, die nun in einem katholischen Kloster hängt. Wer weiß, wie paranoid sich die katholische Kirche verhält, wenn ein Nicht-Katholik an einer katholischen Messe teilnehmen möchte, wird meine Verwunderung nachvollziehen können. Egal.
Wie es heißt, hat vor knapp zweitausend Jahren der heilige Lukas ein Stück des Esstisches der Heiligen Familie ausgesägt und darauf die Muttergottes und das auf ihrem linken Arm aufrecht sitzende Jesuskind gemalt. Im vierten Jahrhundert hätte es die heilige Helena zu Kaiser Konstantin gebracht und tausend Jahre später wäre es als Mitgift für eine Hochzeit nach Osteuropa gekommen. Auf dem Weg dorthin hätten die Kutschpferde irgendwo in der weiten schlesischen Landschaft ihren Dienst verweigert, was als Zeichen gewertet wurde, das Bild im nahen Kloster unterzubringen. Seitdem wollten mehrmals kriegerische Eroberer das Bild rauben, aber das ist, wenn man den Ãœberlieferungen glauben darf, jedes Mal tödlich für die Räuber ausgegangen.  Wie auch immer das tatsächlich war – seither ist das Gnadenbild ein nationales Symbol aller Polen und das Kloster die beliebteste Wallfahrtskirche des Landes. Selbstverständlich pilgern auch alle polnischen Schüler mindestens einmal mit ihren Klassen dorthin. Und da habe ich etwas Interessantes erlebt, und das hat mit dem Bild zu tun. Die Muttergottes ist nämlich, und das hebt sich vom goldenen Hintergrund extrem deutlich ab, schwarz! Das ist ungewöhnlich, sehr ungewöhnlich, aber sonst hieße sie auch nicht „Schwarze Madonna von Tschenstochau“.
Eine Volksschulklasse stand dort vor dem Gnadenbild und die Kinder waren entsprechend irritiert, denn dunkelhäutige Menschen sieht man in Südpolen auch heutzutage noch ausgesprochen selten. Und dann auch noch auf einem Marienbild, wo doch jeder polnische Schüler in seinem Leben dutzende, wenn nicht hunderte Mariendarstellungen gesehen hat, die allesamt eine weiße Madonna und ein weißes Jesuskind zeigen! Nach einer Minute der Fassungslosigkeit fragte ein Mädchen seine Lehrerin: „Ist die Maria krank?“ „Nein“, entgegnete die Lehrerin. „Sie ist gesund, und sie hat ein gesundes Baby zur Welt gebracht.“ „Dann ärgert sie sich über irgendetwas so sehr, dass sie schwarz geworden ist?“ „Nein, auch nicht. Sie ist eben schwarz, weil es viele Menschen gibt, die keine weiße Haut haben.“ „Auch Heilige?“ „Ja, auch Heilige. Denn die Hautfarbe ist vollkommen egal, wenn es darum geht, ob jemand ein guter Mensch ist oder nicht. Vor dem lieben Gott sind alle Menschen gleich. Er achtet nicht auf die Hautfarbe, sondern aufs Herz. Das sollten wir in unserem Leben auch tun.“ Ein freudiger Glanz zauberte sich ins Gesicht des Mädchens. Mit weit aufgerissenen Augen strahlte es die schwarze Madonna an.
Ich weiß nicht, ob seine Faszination damit zu tun hatte, dass seine eigene Hautfarbe darauf hindeutete, dass seine eigenen Vorfahren vor vielen Generationen aus Indien eingewandert sein dürften. Aber ich wusste: Diese Lehrerin war eine großartige Lehrerin. Im Geist zog ich den Hut vor ihr. Schade nur, dass nicht alle Kinder solche Lehrerinnen haben! Die Welt wäre eine bessere!


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